Rahimo Täube legt in seinem neuen Buch einen äusserst spannenden und reichhaltigen Kommentar zum Yogasutra vor. Nicht nur hat der Indologe, Yogalehrer und Körpertherapeut die Sutras so aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt, dass sie in unserem westlichen Alltag relevant sind. Er stellt zudem Patanjalis Werk in einen grösseren Rahmen – sowohl sozial-geschichtlich als auch philosophisch.
«Yoga ist eine eigene Lebensform, die besonders dann entsteht, wenn die Lebensumstände schwer zu ertragen sind», schreibt der Autor. Er beschreibt die geschichtlichen Hintergründe, die dazu führten, dass die indischen Ureinwohner:innen geknechtet und bagatellisiert wurden. Einige von ihnen flohen in die Wildnis – Berge und Wälder – und schlossen sich schliesslich zu Gemeinschaften zusammen.
Er geht auf das geistige Ringen zwischen den brahmanischen Priestern und den frühen Yogis ein und zeigt, wie es den Brahmanen schliesslich gelang, die Oberhand zu gewinnen. Aus den praxisorientierten, am eigenen Körper erfahrenen spirituellen Erlebnissen wurde ein hochkomplexes theoretisches Gebilde mit Brahman als das unvergängliche Eine. So entstand eine neue, herrschaftskonforme Religion: der Hinduismus mit der Vedanta-Lehre im Zentrum.
Rahimo Täube zeigt auf, wie sich der Yoga im Lauf der Jahrhunderte mehrmals grundlegend veränderte und «der heilige Kern des ursprünglichen Yoga», die eigene, tiefgreifende Erfahrung der Stille, dabei verschüttet wurde.
Mit seiner freigeistigen Haltung entrümpelt Patanjali im Yogasutra die religiös befrachteten Yoga- und Meditationslehren und legt den heiligen Kern wieder frei. Während die Brahmanen das universelle, göttliche Brahman in den Mittelpunkt gestellt hatten, stellt er den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Das tut er, indem er über den blossen Glauben hinausgeht zur Praxis des genauen Hinschauens und Hinfühlens.
Patanjali behandelt in seinem Standardwerk zum Yoga nicht nur Yoga, sondern beschreibt das Wesen des Menschen – deshalb ist das Yogasutra auch heute aktuell. «Er zeigt dem damaligen Yogi – und auch uns Heutigen – einen Weg, zu einer eigenständigen, spirituellen und zugleich vernünftigen Lebenshaltung zu finden», sagt Rahimo Täube.
Nach der ausführlichen historischen Einführung folgen die 195 Sutras, die der Autor so übersetzt hat, dass sie heutige Menschen im Westen ansprechen. Es ist ihm hervorragend gelungen, das Yogasutra zu einem Gesamtwerk zu verweben, welches Herz und Seele berührt, und uns auf dem spirituellen Weg weiterführt. «Patanjali’s psychologische Yogalehre» ist ein wunderbares, inspirierendes Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche.
Rahimo Täube. Patanjali’s psychologische Yogalehre. Mit sozialgeschichtlichen Hintergründen und praktischen Übungen. Phänomen Verlag 2022. 232 Seiten, Fr. 28.90