Autorin: Jennifer Ammann
Das Patriarchat ist nicht auf bestimmte Teile unserer Gesellschaft beschränkt. Es hat sich in jeden Teil unseres Lebens eingeschlichen, um Frauen von der Macht fern zu halten und Männern immer mehr Kontrolle zu geben. Zu diesem Schluss kommt Rebekka Endler in ihrem spannenden und zugleich ernüchternden Buch «Das Patriarchat der Dinge: Warum die Welt Frauen nicht passt».
Die Journalistin und Podcasterin erzählt sarkastisch und immer wieder mit einer Prise Humor, wieso so viel in unserem Alltag das Leben von Frauen schwierig macht: Das Patriarchat ist Urheber und Designer unserer Umwelt. Wenn wir uns das bewusst machen, erscheinen viele oft nicht hinterfragte Dinge plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Das Maskulin
Die Idee, dass Frauen automatisch in dem sprachlichen Maskulin miteingeschlossen sind, ist falsch. Das sieht man an einer Studie, die beweist, dass Menschen – und zwar Männer und Frauen – die nach berühmten Schriftstellern und Schriftstellerinnen gefragt werden, und nicht nur nach Schriftstellern, auf Anhieb mehr Autorinnen erwähnen.
Die Frau wird nicht nur aus der Grammatik verbannt. Wissenschaftliche Entdeckungen werden fast nie nach einer Frau benannt. Die Curie’sche Radioaktivität oder die Meitner’sche Kernspaltung gibt es nicht, dafür aber Darwins Evolutionstheorie und Schrödingers Katze.
Der männliche Raum
Raum ist nicht neutral. Er spiegelt die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft wider. Öffentliche Toiletten für Frauen gibt es wenige. Der öffentliche Verkehr ist mit Treppen und Pflastersteinen versehen, was nicht nur Frauen mit Kinderwagen das Leben schwer macht, sondern auch behinderten Menschen. Denkmale von Frauen sind kaum zu finden.
Das spielt alles keine Rolle – Frauen wird ja ohnehin davon abgeraten, den öffentlichen Raum zu betreten, vor allem nachts. Mädchen wird in jungen Jahren klar gemacht, dass sie alles im Leben erreichen können – solange sie es schaffen, nicht von einem fremden Mann entführt und umgebracht zu werden. Das ist zutiefst ironisch, weil statistisch belegt ist, dass Partnergewalt das Zuhause zum gefährlichsten Ort für Frauen macht. Fast alle drei Tage wird eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner ermordet. Alle 45 Minuten wird eine Frau angegriffen.
Doch das Patriarchat externalisiert das Böse. Das ist doppelt praktisch: Einerseits bleiben so die Männer, die wir kennen, unschuldig. Andererseits unterdrückt nichts so gut wie die Angst vor dem Unbekannten.
Bewegungsfreiheit in der Mode
Selbst die Mode, die seit jeher eine wichtige Ausdrucksform für Frauen ist, wird komplett vom Patriarchat dominiert. Kleider für Frauen sollen nicht praktisch sein, wie man an profillosen Ballerinas, High Heels und Miniröcken sieht. Vielmehr soll Kleidung die Frau daran hindern, sich frei fortzubewegen.
Eine Studie aus dem Jahr 2012 zeigt zudem, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Kleidung und Wahrnehmung gibt: Je «femininer» und «sexyer» die Kleider von Mädchen sind, für desto dümmer und inkompetenter werden sie gehalten. Es scheint fast, als sei Weiblichkeit direkt mit Unfähigkeit verbunden.
Kulturell ausgeschlossen
«Man malte eine nackte Frau, weil man es genoss, sie anzuschauen, man gab ihr einen Spiegel in die Hand und nannte es Eitelkeit, so verdammte man moralisch die Frau, deren Nacktheit man zum eigenen Vergnügen dargestellt hatte», sagte der britische Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger einmal.
Die ersten bekannten Schriftstücke stammen nachweislich von Frauen. Doch niemand lernt in der Schule von Bullussa-rabi oder En-hedu-anna. Bis heute, wo die Existenz von Autorinnen nicht mehr zu verleugnen ist, empfehlen Standardwerke mit Lektürevorschlägen durchschnittlich 77 Schriftstellerinnen im Vergleich zu 446 Schriftstellern.
Auch die Kamera behandelt Frauen und Männer unterschiedlich: Frauen besetzten nur 30,5 Prozent der Sprechrollen in Film und Fernsehen. Dafür sind sie fast dreimal so häufig wie Männer nackt zu sehen.
Während wir Selfies verpönen, feiern wir die Fotografie von Männern, die Frauen ins Zentrum stellen. Schliesslich soll die Frau passiv bleiben, sich nie selbst bewundern, während der männliche Blick mit ihr tut, was er will.
Nochmal «anders»
Unsere Welt unterdrückt aber nicht nur Frauen. Schwarze Frauen sterben während der Schwangerschaft, der Geburt oder unmittelbar danach dreimal so oft wie weisse Frauen. Texte werden nicht so geschrieben, dass sie für behinderte Menschen, die auf einen Screenreader angewiesen sind, gut lesbar sind. Die WHO zählte bis 1977 Homosexualität zu den Krankheiten, die es zu heilen galt, und erst 2019 hat die Organisation entschieden, Transgeschlechtlichkeit nicht mehr als psychische Störung zu definieren.
Der Kapitalismus lässt nur die Wenigsten an die Macht. Die Auserwählten sind weisse, heterosexuelle, able-bodied, cis-Männer. (Cis-Menschen sind Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei Geburt zugeschrieben wird.)
Vielleicht bekommen Frauen in der Gesellschaft, in der wir zurzeit leben, nie den Platz, den sie brauchen, um sich frei zu fühlen. Am Schluss des Buches erzählt Rebekka Endler jedoch von ihrer Tochter, die kurz vor dem Einschlafen, sagt: «Babys sind wirklich die besten Künstler und Künstlerinnen» – so, als sei der Inbegriff aller Geschlechter das Normalste der Welt. Rebekka Endler gibt das Hoffnung. Mir auch.
Rebekka Endler. Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt. Dumont Verlag 2021. 336 Seiten