Es ist immer noch viel zu wenig bekannt: Frauen sind oft anders krank als Männer. Obwohl Frauen fast die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, werden sie bei der Entwicklung und Testung von Medikamenten, Diagnoseverfahren und Therapien weitgehend ignoriert. Die Gendermedizin will Abhilfe schaffen.
Als Frau krank zu werden, ist um einiges gefährlicher als für einen Mann. Denn es wird immer noch kaum erforscht, dass Frauen oft andere Symptome haben, ihre Organe etwas anders gebaut sind und warum sie manche Erkrankungen häufiger treffen als Männer.
Das dramatischste Beispiel hierfür ist der Herzinfarkt. Viele Frauen erkennen die bei ihnen auftretenden Symptome nicht, da das berühmte «Kribbeln im linken Arm» fehlt, und rufen den Notarzt nicht. Falls sie es doch tun und Pech haben, ordnet auch das medizinische Personal die Symptome nicht richtig ein; wertvolle Zeit geht verloren. Da auch Therapie und Nachsorge auf Max Mustermann ausgerichtet ist, sterben in einer solchen Situation mehr Frauen an einem Herzinfarkt als Männer.
Die Ärztin und Autorin Franziska Rubin macht in ihrem praxisorientieren Buch einen Streifzug durch die neuste Forschung der Gendermedizin, die sich mit dem gar nicht so kleinen Unterschied zwischen Mann und Frau beschäftigt. In der Schweiz bieten übrigens die Universitäten Zürich und Bern seit Mai 2020 gemeinsam Europas ersten Weiterbildungslehrgang in Gendermedizin an.
Weniger Muskeln, kleinere Leber
Bei den meisten Sportarten ist klar: Männer und Frauen treten in getrennten Gruppen an. Auch wenn Frauen in fast allen Sportarten mitmachen, haben sie weniger Muskeln und Kraft als Männer. Das liegt vor allem daran, dass sie weniger Testosteron im Blut haben, das männliche Sexualhormon, das die dicksten Muskeln aufbaut. Zudem haben Frauen ein kleineres Herz, kleinere Lungen und weniger Blut und Knochenmasse.
Schockierend ist, dass dieser Unterschied im Sport so klar trennt, in der Medizin bisher jedoch kaum beachtet wird. Und das, obwohl schon im Biologieunterricht gelehrt wird, dass ein Mädchen zwei X-Chromosomen hat, während ein Buben ein X- und ein Y-Chromosom besitzt. Das bedeutet, dass das weibliche Immunsystem genetisch bedingt robuster ist. Dafür sind Frauen anfälliger für Autoimmunerkrankungen – mittlerweile gibt es über 80, die überwiegend Frauen treffen.
Auch andere typisch weibliche Merkmale haben einen Einfluss auf Krankheit und Therapie. So funktioniert bei Frauen beispielsweise die Verdauung meist etwas langsamer: Es dauert 8,8 Stunden, bis die Nahrung durch den Magen-Darm-Trakt gegangen ist (bei Männern 6,9 Stunden). Das heisst, Medikamente bleiben bei Frauen länger im Körper; schädliche Substanzen haben mehr Zeit, die Darmwand anzugreifen. Auch die weibliche Leber, die verstoffwechselt und entgiftet, ist im Durchschnitt kleiner und arbeitet langsamer. Frauen vertragen nicht nur Alkohol schlechter, das hat auch Einfluss auf den Abbau von Arzneimitteln.
Von Mäusen und Männchen
Kein Wunder, wirken Arzneimittel bei den Geschlechtern oft anders. Einige Medikamente werden bei Frauen bis zu 50 Prozent schneller abgebaut, andere wirken stärker. Dieses Wissen hat in der praktischen Medizin kaum Eingang gefunden. Klinische Studien zu Medikamenten sind immer noch eine eher männliche Angelegenheit: Grundlagenforscher wählen lieber Mäusemännchen, da sie keinen Zyklus haben. Noch in den Neunzigerjahren wurden Studien in allen drei Medikamenten-Erprobungsphasen ausschliesslich an Männern durchgeführt. Diese Untersuchungen sind die Grundlage für die meisten der heute zugelassenen Medikamente.
Auch wenn die Gendermedizin immer mehr auf solche Missstände aufmerksam macht, die Gesetze sich zu verändern beginnen und immer mehr Frauen Medizin studieren, wird es noch eine Weile dauern, bis es eine bessere Medizin für Frauen gibt. Zum Glück können Frauen (und natürlich auch Männer) viel zu ihrer eigenen Gesundheit beitragen. Mit der Kombination aus Schulmedizin, naturheilkundlichen Therapien, Lebensstil und oft höchst effektiven Hausmittelchen.
Franziska Rubin hat in ihrem Buch die wichtigsten Volkskrankheiten zusammengetragen und gibt viele Tipps, wie sie ganzheitlich und frauengerecht erkannt und behandelt werden können.
Dr. med. Franziska Rubin. Die bessere Medizin für Frauen. Ganzheitlich und individuell der Schlüssel zu Ihrer Gesundheit. Knaur Verlag 2021. 208 Seiten