Die Bhagavadgita gehört zu den populärsten Texten der Yoga-Tradition. Ihre höchst revolutionäre Meditationslehre wird jedoch kaum beachtet und fast nie zu Ende gelesen. Meditation ist hier mehr als der Rückzug nach innen. Es geht darum, in der Stille die eigene Bestimmung im Leben zu entdecken und diese im Alltag umzusetzen. Der Yogaphilosophie-Experte Eckard Wolz-Gottwald hat dazu ein wunderbares Buch geschrieben: „Die Bhagavadgita im Alltag leben“.
„Yoga! Das Magazin“: Wieso haben Sie die Bhagavadgita genauer angeschaut?
Eckard Wolz-Gottwald: Die Literatur zur Bhagavadgita ist umfangreich. Doch ein Übungsbuch dazu, wie man sie heute umsetzen kann, gab es noch nicht. Das, obwohl es in der Yogatradition kein Buch gibt, das so radikal den Weg nach innen geht und gleichzeitig sagt, dass wir da nicht stehen bleiben dürfen. Entscheidend ist, dass wir den Yoga wieder in die Welt hinaustragen.
Bei der Meditation ist es auch so. Meditation ist normalerweise ein Weg zu sich, um sich der inneren Schätze bewusst zu werden. Doch es kommt der Moment, in dem wir das Meditationskissen verlassen müssen und dieses Bewusstsein mitten in der Welt leben sollen. In der Bhagavadgita steht, gehe raus und tue das, was jetzt angesagt ist.
Wieso ist die Bhagavadgita das einzige Buch das den Weg nach innen und zurück nach aussen aufzeigt?
Die indische (Yoga)Tradition ist stark vom Hinduismus beeinflusst, und da geht es wie in allen Religionen um das Erschliessen von jenseitigen Welten. Doch Yoga will viel mehr: es geht um das Erschliessen des Hier und Jetzt. Das ist die Botschaft des Yoga in der Bhagavadgita.
Ja, ihr könnt euch in die Höhle zurückziehen – doch das ist nicht Entsagen. Entsagen ist das Loslassen unserer Gebundenheit an all das, was wir noch erreichen wollen. Anerkennung zum Beispiel; wir sind alle von Anerkennung abhängig und machen genau das, was unsere Eltern, unsere Lehrer, andere Menschen wollen, um diese Anerkennung zu erhalten. Davon Abstand zu nehmen und zu überlegen, was will ich denn wirklich, ist die grosse Revolution.
Die Bhagavadgita hat ihre Bedeutung vor allem als religiöser Text. Wieso ist sie relevant für uns Menschen im Westen?
Die Struktur dieses religiösen Textes stand von vornherein fest und erzählt die Geschichte von Krishna und Arjuna und der Bharata-Familie. Der Yoga wurde später sozusagen hineingeschmuggelt. Selbst die Gurus, die in den Westen kommen und über die Bhagavadgita sprechen, sind meist Hindus und sehen sie ganz stark als einen religiösen Text.
Doch wenn wir hier und heute von der Bhagavadgita lernen wollen, geht es nicht um den Platz in der Gesellschaft gemäss dem Kastensystem. Es darum, dass wir ein Svadharma haben, eine innere Bestimmung, und dass Yoga der Weg ist, die eigene Aufgabe zu erkennen. Da geht die Bhagavadgita über alle anderen Texte hinaus. Der Yogaweg ist ein Lernweg, und dass ich diese Bewusstheit üben kann, hat mir sehr viel gegeben.
Wieso wurde bei den vier Yoga-Übungswegen in der Bhagavadgita der Meditation am wenigsten Beachtung geschenkt?
Die Tradition der vier Yogawege entwickelte sich im 19. Jahrhundert. Aurobindo und Gandhi machten im 20. Jahrhundert den Yoga der Bhagavadgita populär, doch sie hatten beide kein Interesse an Meditation. Meditation zu üben kann jedoch sehr inspirierend sein. Es geht nicht darum, wunschlos glücklich zu sein. Es reicht nicht, im Meditationszentrum oder am Strand zu sitzen und zufrieden zu sein. Wir müssen mit dem in der Meditation entstandenen Blick in die Welt schauen und erkennen, welche Wünsche für die Welt gut ist. Dazu finden wir in der Bhagavadgita das Fundament.
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