«Ich denke, also bin ich», sagte der französische Philosoph René Descartes. Er kam auf die Aussage, als er in Erfahrung bringen wollte, was man mit Sicherheit wissen kann. Descartes, der grosse Zweifler, hatte erkannt, dass wir uns nicht immer auf unsere Sinne verlassen können: «Ich hatte schon vor mehreren Jahren bemerkt, wie viel Falsches ich in meiner Jugend für wahr gehalten hatte, und wie zweifelhaft alles war, was ich darauf erbaut hatte», schrieb er in seinen Abhandlungen.
Wenig wusste der Philosoph, der das Gedankengut der Aufklärung massgeblich prägte, von der Hirnforschung, die heutzutage viele unserer Ideen und Glaubenssätze auf den Kopf stellt. «Ich denke nicht, also bin ich», würde der Neuropsychologe Chris Niebauer wohl eher sagen. Und belegt das mit seinem grossartigen Buch «Kein Ich, kein Problem».
Das Ego bildet das Zentrum unserer Selbstdefinition. Unser Denken leitet uns durch den Alltag, ordnet, kategorisiert und bewertet, teilt in gut und schlecht ein, in Erfolg und Misserfolg. Die linke Gehirnhälfte, der unser Denken entstammt, interpretiert ständig die Welt und erzählt Geschichten, um sie zu erklären. Dann versucht sie die Probleme zu lösen, die sich aus diesen Geschichten ergeben, die sie erschaffen hat.
Ihre überzeugendste Geschichte ist diejenige über uns selbst, oder darüber, wer wir zu sein glauben. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse der vergangenen Jahre deuten darauf hin, dass die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen, eine Illusion ist. Im Buddhismus, Hinduismus oder Taoismus hingegen gibt es das Konzept des «Nicht-Ich» schon lange. Buddha sprach bereits vor 2500 Jahren in einer Lehrrede davon. Und der persische Mystiker Rumi sagte im 13. Jahrhundert: «Verlierst du jedes Ich-Erleben, schwinden die Fesseln von tausend Ketten.»
«All diese Traditionen sind sich darin einig, dass wenn sich das Ich als Illusion entpuppt, auch die Probleme, die das Ich geschaffen hat, Illusionen sind. Anders ausgedrückt: Ein Grossteil unseres mentalen Leidens ist eine Erfindung, geschaffen und aufrechterhalten von unserem denkenden Verstand», schreibt Niebauer.
Hurra! Wir können uns also zurücklehnen, ausatmen, die Illusionen loslassen und ein sorgenfreies Leben führen. – Nur ist unsere linke Gehirnhälfte natürlich viel zu schlau, um uns so einfach vom Haken zu lassen. Die vielen kleinen Übungen im Buch führen deutlich vor Augen, wie festgefahren wir mit unseren Ansichten sind.
Bei diesen scheinbar läppischen Aufgaben reagiert mein Verstand blitzschnell und gibt die (falsche) Antwort. Denn die linke Gehirnhälfte ist nicht nur stur, sondern obendrein auch noch ziemlich faul. Lieber sofort kategorisieren und schubladisieren, anstatt mit Denken zu viel Energie zu verbrauchen.
Freiheit kommt in dem Moment, in dem «Ich weiss, dass ich nichts weiss», wie Byron Katie, die Begründerin der Selbstbefragungsmethode «The Work» sagt. In dem Moment fallen die Scheuklappen weg und es öffnet sich ein weiter Raum, in dem es mehr als eine Wahrheit gibt.
Chris Niebauer hilft uns mit seinem spannenden, leicht verständlichen und teilweise durchaus lustigen Buch – und das nicht nur, wenn wir plötzlich über uns selbst lachen können –, unseren Horizont zu erweitern und der linken Gehirnhälfte immer mal wieder ein Schnippchen zu schlagen. Und je öfter wir das tun, desto weniger Macht hat sie über uns.
Dr. Chris Niebauer. Kein Ich, kein Problem. Ein Praxisbuch. Übungen und Gedankenspiele aus Neuropsychologie und Buddhismus, die unsere Wahrnehmung so verändern, dass wir die Wirklichkeit sehen können. VAK Verlag 2023. 206 Seiten, Fr. 25.90