Wir kennen es alle: die (digitale) Informationsflut überfordert uns, frisst viel Zeit, macht es schwierig, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, ja überhaupt einen Entscheid zu fällen. Will ich nun auf Facebook die schönen Ferienfotos eines Kollegen bewundern, auf Instagram einer Frau folgen, die sich für Bodypositivity und Feminismus stark macht oder mehrmals täglich die neusten Updates zum Krieg in der Ukraine lesen? Und wie steht es mit meiner eigenen Vermarktung? Gehöre ich noch dazu, wenn ich nicht Fotos aus meinem Leben teile, meine eigenen Fähigkeiten zur Schau stelle?
Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther und der Publizist Robert Burdy haben ein spannendes, erschütterndes Buch zu unserer digitalisierten und globalisierten Welt geschrieben, in der die Mehrheit der Menschen vor allem verwirrt ist. Noch nie in der Geschichte der Menschheit stand so vielen Menschen so viel Wissen frei zur Verfügung wie jetzt. Doch das hat uns nicht Freiheit gebracht, sondern ganz viele direkt in einen goldenen (Unterhaltungs)Käfig geführt: ohne den dauernden Blick aufs Handy geht es fast nicht mehr, Push-Nachrichten halten uns in Alarmbereitschaft, Fahrten im Bus oder Zug verkürzen wir uns mit Instant-Informationen.
Grosse Geschwindigkeit führt jedoch meist nicht schneller zum Ziel: «Zu viele Botschaften, zu rasche Abfolge ihrer Übermittlung und zu kurze Reaktionszeiten verwandeln potenzielle Informationen in zunehmende Verwirrung», schreiben die Autoren. «Wenn diese Kommunikation aber unsere Gehirne überflutet, kommt es zu einem Ungleichgewicht. Gefühle, Vorstellungskraft, Entdeckerfreude, Neugier, ganzheitliches Verständnis gehen verloren.» Hinzu kommt, dass in den digitalen Medien die Grenze zwischen Information und Werbebotschaft meist gar nicht mehr zu erkennen ist, und dass die «emotionale Aufladung» von Nachrichten und Botschaften am wirksamsten durch das Schüren von Angst funktioniert.
Während sich ein grosser Teil des Buches mit dem Funktionieren von Nachrichten und den verheerenden Folgen für uns und unser Leben beschäftigt, geben die Autoren im zweiten Teil ganz konkrete Tipps, wie wir wieder selbstbestimmter leben können. Denn: Wir haben zeitlebens ein lernfähiges Hirn. Ja, wir können lernen, andere Lebenswesen zu Objekten zu machen: so werden Kriege und Umweltzerstörung möglich.
Doch wir können auch lernen, uns vermehrt mit möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Menschen auszutauschen und unseren Verstand zu gebrauchen. «Was wir also brauchen, ist nicht ein anderer Umgang mit Informationen, sondern eine andere Art des Miteinanders. Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander in Augenhöhe begegnen, die einander stärken, statt miteinander um Bedeutsamkeit und Anerkennung zu konkurrieren.»
Es geht um die Besinnung auf unser Menschsein. Frieden entsteht nicht durch die Verhinderung offen zutage tretender Gewalt, sondern durch Hinwendung zu allen Lebewesen. Es ist höchste Zeit, das in uns Menschen angelegte Potential, einander tief im Inneren zu berühren, zur Entfaltung zu bringen: «So schwer ist das nicht. Es beginnt ja bereits mit einem Lächeln, das sie einem anderen Menschen schenken. Und das enthält mehr Informationen als tausend Worte», schreiben die Autoren.
Gerald Hüther, Robert Burdy. Wir informieren uns zu Tode. Ein Befreiungsversuch für verwickelte Gehirne. Herder Verlag 2022. 239 Seiten