Autorin: Adelheid Ohlig
Seit ich mit einem Kleinkind zusammen lebe, staune ich, freue ich mich an der Neugier, am forschenden Ausprobieren, Erkunden und werde Zeugin von Entwicklung. Erinnere mich auch an das eigene Heranwachsen.
Álvaro Bilbao, Neuropsychologe und Vater dreier Kinder, gibt mir nun zu den erlebten Abläufen der Entwicklung die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung. Beispiele aus seinem Leben als Familienvater ergänzen die Beobachtungen. Bilbao definiert wie wichtig Geduld und Zeit sind: «Die zerebrale Entwicklung ist kein Prozess, der sich beschleunigen lässt, ohne dass ein Teil seiner Eigenschaften dabei verloren geht…Empathie, die Fähigkeit zu warten, das Gefühl der Ruhe oder die Liebe lassen sich nicht im Treibhaus heranzüchten, sondern müssen mit Musse wachsen.»
Schon länger sehen Psychologie und Pädagogik Entwicklung ähnlich den Abläufen in der Natur: eigene Rhythmen, eigenes Tempo und behutsam unterstützen, was wachsen will, was gepflegt werden soll. Der Mensch hat einen natürlichen Antrieb, sich voll zu entwickeln, schreibt Bilbao. Und: «Das Gehirn des Menschen weist die natürliche Eigenschaft auf, sich mit sich selbst und in der Gemeinschaft anderer wohlzufühlen, nach Glück zu streben und seinem Dasein einen Sinn zu verleihen.»
Der Neurologe weist wiederholt auf das Zusammenspiel zwischen Reptiliengehirn, dem ältesten Teil und dem rationalen sowie dem emotionalen Gehirn hin. Wichtig sei, das rechte Augenmass zu finden und altersgerecht zu kommunizieren. Die Werkzeuge, die er empfiehlt, sind Zuneigung, Verständnis, Empathie.
Er gibt den Emotionen weder positive noch negative Konnotation, sondern findet, dass man sie zunächst anerkennen, ihnen Raum und Zeit geben soll. Vorbild sollen wir sein, positive Verhaltensweisen bestärken. Damit wächst die Selbstwirksamkeit des Kindes.
Mir gab die Lektüre indirekt umsetzbare Tipps für den Yoga-Unterricht. Der demokratische, gleichwertige und gleichberechtigte Umgang, den Bilbao mit seinen Kindern pflegt und den er allen Erziehenden nahelegt, beruht auf einem inneren Wertesystem von Freiheit und Förderung. Dabei werden auch Grenzen gezogen, geht es doch um beides: ein individueller Mensch und gemeinschaftsfähig zu sein – ohne sich zu verbiegen. Da braucht es keine Strafen, sondern eine klare, innere Haltung.
Es sind stets vorhandene Zutaten, die der Forscher uns allen zur Entfaltung empfiehlt: Vertrauen, Verantwortung und die Wege und die Prozesse als wertvoll zu begreifen und zu nutzen: wie kreativ gehen wir an etwas heran? Welche Lösungen fallen uns ein? Das Resultat ergibt sich dann. Vielfalt zulassen bringt Freude in den Alltag und löst neuartige Fragen. Zwar bringe die Logik von A nach B, doch die Fantasie eben überallhin.
Dank der Lektüre lernte ich Neues, vertiefte Altes, wurde bestätigt in einem freien, vertrauensvollen Menschenbild und freue mich, wenn mir die eine oder andere Anregung mehr Leichtigkeit in meinen Alltag, in meine Begegnungen, in mein Unterrichten bringt.
Álvaro Bilbao. Kluge Köpfchen. Die erstaunliche Entwicklung des kindlichen Gehirns. Herder Verlag 2022. 302 Seiten, Fr. 36.90